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ZEIT

„Guten Tag“, sagte der kleine Prinz.

„Guten Tag“, sagte der Händler.

Es war ein Händler, der durststillende Pillen verkaufte. Man schluckt eine Pille pro Woche und hat dann kein Bedürfnis mehr zu trinken.

„Warum verkauft man das?“, sagte der kleine Prinz.

„Das bringt große Zeitersparnis“, sagte der Händler. „Experten haben dies berechnet. Man kann dreiundfünfzig Minuten pro Woche einsparen.“

„Und was macht man mit dreiundfünfzig Minuten?“

„Man macht damit, was man will…“

„Ich würde“, sagte der kleine Print, „wenn ich mir dreiundfünfzig Minuten erspart hätte, gemütlich zu einem Brunnen gehen…“


In einer leistungsorientierten Gesellschaft wie der deutschen spiegelt sich die Phrase „Zeit ist Geld“ komplett wieder. Genau dies weiß auch jeder der sich in dieser Struktur bewegt, dennoch gibt es einen Unterschied zwischen wissen und realisieren. In der Theorie ist uns allen klar, dass wir unsere Zeit mit unzählbaren Zeitfressern vollstopfen und uns so die Freiheit zum Leben nehmen. Wirklich verstehen tut man es aber erst, wenn man aus den Gittern aus Stunden-, Minuten- und Sekundenzeigern mal ausbricht. Erst dann merkt man, wie kaputt einen das ständige hetzen von Termin zu Termin macht. Selbst in einer Pause ist man oft im Zeitdruck, da man zum Entspannen ja nur 30 Minuten hat nach diesen dann auch wirklich ausgeruht sein muss. Allein der Druck „Du musst dich jetzt entspannen!“ bewirkt oft ja genau das Gegenteil. Gerade in besonders stressigen Zeiten hat man das Gefühl man kämpft gegen die Zeit, so war es jedenfalls bei mir immer. Beispielsweise in der Abi-Phase habe ich gemerkt wie mir die Zeit zu den Prüfungen davon rennt, wodurch ich dann alles noch mit noch mehr Aufgaben vollgepackt habe. Im Nachhinein weiß ich, dass ein anderer Zeitumgang mir deutlich mehr geholfen hätte.


In Lesotho ist die allgemeine Zeitwahrnehmung eine andere, es scheint als wären die Basotho (Menschen in Lesotho) vollkommen unberührt vom allgemeinen Zeitsparsyndrom der westlichen Welt. Spricht man mit Michael Endes Worten aus „Momo“, so ist das kleine Land hier im Süden Afrikas von den grauen Männern, die jeden zum ständigen Zeitsparen anstiften, verschont geblieben. Hier gibt es noch viele Momos, die einen klaren Kopf bewahren und die tatsächliche Bedeutung von Zeit kennen. Im Gespräch mit verschiedene Menschen fiel auch schon ein paar Mal die Phrase „Lebe jeden Tag als ob es dein letzter wäre“ Nach genau dieser Devise scheinen hier auch einige Leute zu leben, nicht in dem Sinne als dass man so lebt, als ob einem alles egal wäre oder als ob man nicht in gewisser Weise auch noch an morgen denkt, trotzdem leben die Basotho viel mehr im hier und jetzt. Dadurch, dass es hier eine andere Lebensstruktur gibt und sich die Menschen oft mit viel essenzielleren Fragen herumschlagen müssen, ist man dem Leben an sich viel näher. Wenn man sich Sorgen um sein Trinkwasser, seine Nahrung, Krankheiten wie beispielsweise HIV oder auch eine Existenzsicherung (im Alter) machen muss, dann bewegt das etwas ganz anderes in einem als wenn man überlegt ob man nach Italien oder Spanien in den Urlaub fliegt oder ob man Pizza oder Salat essen möchte. Ich möchte hiermit nicht behaupten, dass Menschen sich in westlichen Ländern nur um eben genannte oberflächliche Themen Gedanken machen; selbstverständlich gibt es auch hier tiefere Fragen die Menschen bewegen, dennoch sind diese meist nicht allgegenwärtig. Befasst man sich mit den Fragen die die Basotho bewegen, so lernt man Zeit an sich zu schätzen. Den Menschen hier ist die Vergänglichkeit des Lebens oft deutlicher vor Augen geführt, weshalb sie gelernt haben, was für sie wirklich von Bedeutung ist und was nicht. Es ist im Endeffekt dann also nicht von größter Wichtigkeit immer und unter allen Umständen beim Job aufzutauchen. Gibt es etwas das erstmal wichtiger erscheint, so kümmert man sich zuerst um das. Denn was bleibt schon? Der Tag auf der Arbeit oder die Beziehung zu einer Person, der man evtl. in einer Notsituation geholfen hat? In einer Gesellschaft die wie die deutsche strukturiert ist, ist solch ein Umgang mit Zeit und Wichtigkeit wohl kaum möglich, trotzdem ist es definitiv ein paar Gedanken wert… In einer Mail nach Deutschland habe ich vor einiger Zeit zu einem ähnlichen Thema mal geschrieben:


„In Europa oder insgesamt in der industrialisierten Welt ist Zeit schon fast eine Währung und auch ein Laster. Ständig hat man diesen Druck im Nacken weil man irgendetwas noch erledigen oder weil man sich an irgendeinen Zeitplan halten muss. Hier spielt Zeit nicht so wirklich eine große Rolle, bis ich darin angekommen war hat es tatsächlich eine Weile gebraucht… Man hat zwar Punkte die man irgendwann mal machen muss allerdings nicht bis um 14:00 oder bis nächsten Montag oder ähnliches… Durch diese Zeitlosigkeit gewinnt man eigentlich so viel, man bekommt ein ganz anderes Selbstgefühl und man gewinnt auch einfach wieder Zeit. Man spürt die Zeit, die vergeht viel mehr und mir geht es so, dass ich lerne zu schätzen, dass ich diese Zeit habe und nutzen kann. Sie ist nicht mehr ein Druck, der auf einem lastet, sondern eher ein Weg, der einem viele Möglichkeiten bietet. Und hier ist es auch in Ordnung, egal welchen Weg man geht, alles ist irgendwie okay.“


Im Umgang mit Basotho merkt man auch schnell, dass es hier andere Werte und Normen als beispielweise in Deutschland gibt. Die Menschen hier fühlen sich alle auf eine gewisse Weise verbunden und sehen sich als ein zusammengehöriges Volk. Es scheint schon fast sogar familiär wenn man durch die Straßen geht, jeder scheint jeden zu kennen und grüßen tut man sowieso jeden. Zu jedem Grüßen gehört auch schon wie zu einem Ritual ein „O phela joang?“ –„Ke phela hantle“ oder eine andere der vielen Möglichkeiten zu fragen wie es einem geht. Dies ist irgendwie natürlich trotzdem noch eine leere Phrase, bei der keiner wirklich wissen will, ob alles okay ist, trotzdem wird eine bestimmte Freundlichkeit und Nähe ausdrückt. Genau dies spiegelt sich auch im tagtäglichen Leben der Basotho wieder. Soziale Kontakte sind deutlich wichtiger, als eine berufliche oder andersartige Aufgabe. So kann es gut sein dass man seine Arbeit unterbricht, nur um sich mit einem Freund oder auch einem Fremden zu unterhalten. Als ein Mensch, der in der deutschen Leistungsgesellschaft aufgewachsen ist, kann einen das aber auch immer mal an seine Geduldgrenzen bringen. In dem Maße in dem soziale Kontakte mehr Wichtigkeit haben, haben Disziplin oder auch Schnelligkeit eben deutlich weniger. Dadurch passiert es immer wieder, dass man eine gefühlte halbe Stunde an der Supermarktkasse steht, weil die Geschwindigkeit der Angestellten in einer deutlich anderen Liga liegt, als die der deutschen. Im ersten Moment spürt man den Zeitdruck dann wieder, da man das Gefühl sich beeilen zu müssen, um schnell wieder mit einer Aufgabe weitermachen zu können, nicht komplett loswird. Andererseits zeigt es einem aber dann auch, dass man sich einfach drauf einlassen muss, um die vergehende Zeit zu spüren und sie wert zu schätzen.


Ich merke hier tatsächlich schon, dass ich eine andere Zeitwahrnehmung habe. Ein Tag fühlt sich ganz anders an als in Deutschland, ob länger oder kürzer kann ich nicht sagen, einfach anders. Auch mein Körper scheint seine innere Uhr wieder gefunden zu haben. So nimmt er sich beispielsweise so viel Schlaf wie er braucht, nicht mehr und auch selten weniger. Das interessante ist auch, dass ich dann nicht einfach am Morgen länger schlafe, nein, ich wache immer ungefähr zur selben Uhrzeit auf, vielmehr ist es so, dass ich dann teilweise ziemlich früh vor Müdigkeit nicht mehr zu gebrauchen bin und dann früher ins Bett gehe. Für diese Möglichkeit bin ich ziemlich dankbar, die Erfahrung so auf seine innere Uhr hören zu können, macht man nicht oft; in einer Welt in der Zeit die Regeln vorgibt ist dies auch nicht wirklich möglich.


Es ist irgendwie unvorstellbar, ich bin hier nun schon drei Monate, vielleicht passt auch eher „erst“. „Schon“ in dem Sinne, dass schon ein Viertel meiner Zeit verstrichen ist und mir dadurch wirklich klar wird, dass ein Jahr nicht wirklich viel ist. „Erst“ in dem Sinne, dass ich das Gefühl habe, dass ich schon deutlich länger hier bin. Die Zeit in Deutschland, die letzten Momente und Gespräche, die Aufregung, das Packen und sogar auch das Ankommen hier scheint schon so lange her zu sein. Immer wieder frage ich mich auch, was ich in diesen drei Monaten denn schon alles gemacht habe. Rein von meinem Gefühl her denke ich immer wieder, dass noch viel mehr gegangen wäre, aber trotzdem ist es nun so wie es ist und das Einzige was hier zählt ist ja sowieso der Moment.


Da wir die Zeit hier wirklich nutzen wollen, werden wir Anfang Dezember auf eine kleine Rundreise gehen, hierüber werde ich dann wahrscheinlich im nächsten Blogeintrag berichten und dann vielleicht sogar schon mein Viermonatiges feiern.


Bis dahin: Mach das Beste aus den Hier und Jetzt!


Alles Liebe


Relebohile


P.S.: Leute die nach Lesotho kommen bekommen meist einen Sesotho-Namen, dies hat zum einen den praktischen Grund, dass die Leute diese besser aussprechen können als einige westliche Namen, zum anderen zeigt es auch, dass man Teil der Gemeinschaft ist. Mein Name ist hier also Relebohile. Angesprochen werde ich trotzdem meist mit Selina, mein Sesotho-Name wurde mir erst nach ein paar Wochen gegeben, wodurch ich schon überall mit meinem deutschen Namen bekannt war.


P.P.S.: Wenn du es bis hierher geschafft hast, möchte ich auf jeden Fall noch danke sagen! Ich weiß, dass solche Gedankentexte immer mal schwer zu lesen sind, vor allem wenn sie sich theoretisch ja einfach nur im Kreis drehen.

Daher: Ich danke dir für deine Zeit und Aufmerksamkeit











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